Aus Angst vor Morddrohungen liess sich Mamadou auf „Das Abenteuer“ ein, wie die Flucht nach Europa in Afrika genannt wird. Er verliess die Elfenbeinküste, überquerte die Sahara und das Mittelmeer, verlor auf dem Weg Freunde und wurde seines Selbstwertes beraubt.
Heute hält er sich in Frankreich als nicht anerkannter Flüchtling mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Er spielt Fussball und tanzt, um zu vergessen.
Seine Tochter aber, die er zurücklassen musste, vergisst er nicht.
Mamadou klammert sich an die Hoffnung, dass sie eines Tages wieder zueinander finden.
Regie: Loïc Phil
Kameraführung: Thierry Le Mer, Rémi Delvern
Ton: Alexandre Bracq, Timotée Pédron
Bearbeitung: Loïc Phil, Simon Philippe, Arthur Ducoux
Kalibrierung: Eudes Quitellier
Musik: Loïc Phil (Ilhoë), Meiway – „Miss Lolo” (J.P.S. Production)
Übersetzung: Susanne Ruckstuhl, Christiane Jeckelmann, Nina Weber, Sandro Grond
(Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften)
Interview
Loïc Phil
Regisseur
„Das ist die Geschichte eines Mannes,
der ständig mit den Schatten
seiner Vergangenheit kämpft,
um die Hoffnung auf eine Zukunft
nicht zu verlieren.”
- Wie ist dieser Film entstanden?
Die ursprüngliche Idee war, einen kurzen Dokumentarfilm zu drehen, der ein wichtiges gesellschaftliches Problem behandelt und dieses gleichzeitig anspruchsvoll in Szene setzt. Das Thema Migration schien mir ein dringliches Anliegen zu sein.
Ich habe Mamadou über den gemeinnützigen Verein Autremonde im 20. Arrondissement von Paris kennengelernt. Seine Philosophie ist es, für Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben, Solidarität und Zusammenhalt aufzubauen. Ich wurde an Mamadou verwiesen, der im letzten Jahr an einer Tanzshow teilgenommen hatte. Wir haben uns von Anfang an gut verstanden.
- Mamadou ist ein Sans-papier, eine Abschiebung könnte ihm jederzeit drohen. Warum hat er zugestimmt, dass Sie seine Geschichte öffentlich machen, auch auf die Gefahr hin, entdeckt zu werden? War es schwierig, ihn zu überzeugen und mit ihm diesen Film zu drehen?
Mamadou war sich des Risikos an die Öffentlichkeit zu gehen bewusst. Er wollte wirklich seine Geschichte erzählen, für jene, die dieselbe Geschichte durchgemacht hatten sowie für andere. Wir waren uns schnell einig, dass der Film gemeinsam entstehen würde: Er würde seine Geschichte erzählen und ich würde nur als Bote fungieren und sie aus meiner Sicht wahrheitsgetreu rüberbringen. Diese Herangehensweise war entscheidend, da sie Mamadou die Möglichkeit gab, sich frei auszudrücken und sich gleichzeitig auf ein sinnvolles Projekt einzulassen.
Das Risiko, jeden Moment abgeschoben zu werden, belastete die Dreharbeiten stark. Eine einzige Ausweiskontrolle wäre für Mamadou fatal gewesen, also mussten wir wachsam vorgehen. Auf der Strasse erregt die Anwesenheit einer Kamera leicht die Aufmerksamkeit der Leute und auch die der Polizei. Also lernten wir, die Polizeikontrollen zu umgehen, indem wir uns von bestimmten Orten fernhielten und in einem kleinen Team arbeiteten. Es war keine leichte Aufgabe, aber der Dreh verlief gut. Letztendlich war es für uns nur ein kleiner Einblick in das, was ein Sans-Papiers tagtäglich durchmachen muss.
Mamadou und ich sind noch in Kontakt und er ist noch immer in Frankreich. Sobald der Corona-Lockdown beendet ist, werden wir den Film gemeinsam an mehreren Orten zeigen!
- Man hat den Eindruck, dass der Film während der Dreharbeiten eine andere Richtung eingeschlagen hat. Was als Tanzfilm angedacht war, entpuppte sich als Geschichte über einen leidenden Mann, der dabei ist, die Hoffnung zu verlieren.
Sie haben absolut Recht! Das anfängliche Projekt konzentrierte sich auf den Tanz, mit einem starken Schwerpunkt auf Zouglou (Musikstil der 90er aus der Elfenbeinküste). Ursprünglich sollte es ein Tanzfilm werden.
Aber je mehr Zeit wir zusammen verbrachten, desto mehr stellte sich heraus, dass Mamadous Geschichte tiefsinniger, komplexer und kraftvoller war, als ich mir vorgestellt hatte. Also entwickelte sich das Projekt rasch hin zu etwas Intimerem und Geheimnisvollem. Wir konzentrierten uns darauf, was in Mamadou vorging und auf seinen Lebensweg. Man könnte sagen, dass das zentrale Thema dieses Films die Vergangenheit eines Menschen ist und diese auf seinem gegenwärtigen Leben lastet. Wir alle erleben unsere Gegenwart nur durch den verzerrenden Blick unserer Vergangenheit, die uns geprägt hat. Das sind Dinge, die wir mit uns herumtragen und mit denen wir uns ständig auseinandersetzen müssen. «Djao» ist die Geschichte eines Mannes, der ständig mit den Schatten seiner Vergangenheit kämpft, um die Hoffnung auf eine Zukunft nicht zu verlieren.
„Ich komme aus einer Generation,
die an den Wochenenden
in ihrem Freundeskreis Videos drehten.”
- Sie haben einen sehr schönen Film gedreht, mit hervorragendem Licht, aus der Nähe aufgenommen, in Bewegung… Wie haben Sie das stilistisch hinbekommen?
Danke! Ich denke immer, dass die Form eines Films eine zentrale Rolle spielt, um dessen Inhalt zu vermitteln. Die Einzigartigkeit des Kinos besteht darin, mit Bild und Ton eine Geschichte so zu erzählen, dass sie Emotionen erweckt. Ich bin der festen Überzeugung, dass man die Zuschauer nur durch Emotionen dazu bringt, das Thema des Films zu fühlen, anstelle es einfach rational zu verstehen. Man kann ein Thema, eine Situation oder einen Zustand nur über diese emotionale Ebene wirklich begreifen, über diesen Schwall von Empfindungen, der sich über die rationale Ebene legt. Das bedeutet schlussendlich, dass man der Form eines Films viel Aufmerksamkeit widmen muss, damit sie sich nicht zu einem starren Schaukasten entwickelt, sondern zu einem wirkungsvollen Instrument zur Vermittlung des Inhalts.
In der realen Welt bedeutete das eine intensive Vorbereitung in Bezug auf die Bildgestaltung. Der Kameramann Thierry Le Mer und ich hatten viele Diskussionen über die visuelle Aufmachung des Films, wie wir qualitativ hochstehende Bilder in intimen Situationen drehen konnten. Wir waren gezwungen, schweres Kameraequipment zu verwenden, mit dem wir überall hinkonnten. Gleichzeitig sollte es aber so unsichtbar wie möglich sein. Das zwang uns auch, den Drehplan so kurz wie möglich zu halten, um mit all dem Material unser Budget nicht zu sprengen. Diese eindringliche Erfahrung verdanken wir zu einem grossen Teil Mamadou, zu dem wir ein gutes Vertrauensverhältnis aufbauen konnten. Mit seiner Art liess er uns grosszügig an seinem Leben teilhaben.
- Sie scheinen ein Allrounder zu sein. Sie führen Regie bei Musikvideos, Werbespots, Dokumentarfilmen und Spielfilmen. Wie lassen sich Ihre verschiedenen Projekte vereinen?
Ich komme aus einer Generation, die an den Wochenenden in ihrem Freundeskreis Videos drehten. Dank dieser Zeit kann ich seit ein paar Jahren in der Werbebranche meinen Lebensunterhalt verdienen. Es ist eine sehr gute Schule in Bezug auf die Technik des Filmemachens und eine gute Möglichkeit, neue Leute kennenzulernen. Ich möchte aber auch meine eigenen Projekte realisieren. Die vielen verschiedenen Ausdrucksmittel (Einzelbild, Einstellung, Szene, Ablauf, Übergang) jedes Genres – ob Dokumentarfilm, Spielfilm, Werbefilm, etc. – interessieren mich sehr. Mir gefällt die Idee, all diese Techniken auszuprobieren, denn sie funktionieren alle anders.
Es ist zum Beispiel eine ganz andere Aufgabe, für einen Spielfilm eine Geschichte von Grund auf neu zu erfinden, oder aber sich in einem Dokumentarfilm auf eine bereits existierende Geschichte einzulassen und seine eigene Perspektive einzubringen. Beides ist interessant und erfordert unterschiedliche Methoden. Ich mag die Spontaneität im Dokumentarfilm sehr. Ich bleibe jedoch neugierig und offen für alle Arten von Projekten!
Ich habe gerade einen kurzen Dokumentarfilm über den Electro Dance fertiggestellt, der im Februar 2021 erscheinen soll. Parallel dazu bin ich an der Entwicklung einiger unterschiedlicher Projekte. Dazu möchte ich im Moment noch nichts sagen. Eins steht allerdings fest: Für 2021 stehen ein paar tolle Projekte an!
- Nun die unausweichliche Frage: Wie wurde dieser Film produziert?
Ich arbeite schon seit mehreren Jahren mit der Produktionsfirma Gump zusammen, sowohl für Werbespots als auch persönliche Projekte. Wir arbeiten gerne zusammen und wir schätzen uns gegenseitig sehr. Gump hatte mich 2019 bei der Produktion des im Iran realisierten Films «As It Blooms» begleitet. Ziel bei «Djao» war es, Zeit und Budget in einem Projekt zu vereinen, das wir mit Stolz präsentieren konnten und uns den Weg für grössere Projekte ebnete. Also widmeten wir uns dem Film, ohne dabei auf unsere Arbeitsstunden zu achten und bildeten gleichzeitig ein solides Team, das sich durch das Projekt motiviert fühlte. So entstand dieser Film eigentlich.
- Können Sie uns einen Dokumentarfilm empfehlen?
Es hat zwar nichts mit dem Thema Migration zu tun, aber ich mag «Every Nite is Emo Nite» von Anderson Wright sehr. Es geht um den letzten Abend eines Emo-Fans in Los Angeles. Ich habe mir den Film oft angeschaut, weil er es meiner Meinung nach schafft, in wenigen Minuten eine Menge Emotionen hervorzurufen. Dem Regisseur gelingt es sehr gut, dass wir uns als Zuschauende mit der Hauptfigur identifizieren, Empathie für sie empfinden und uns schliesslich durch das berühren lassen, was mit ihr passiert.
Ich denke, es ist ein sehr gutes Beispiel dafür, worauf man bei einem Film achten sollte. Was uns dazu bringt, von einem Film gefesselt zu sein oder ihn toll zu finden, ist neben der Thematik die Empathie, die wir für eine Figur empfinden. Der Rest kommt mit ihr. Gerade in diesem Film passiert dies durch die kluge Auswahl der Figuren, durch schöne und eindringliche Kameraeinstellungen und schliesslich durch einen intelligenten Schnitt. Der Filmeditor versteht es genau, wie lange eine Kameraeinstellung stehen soll, um den Zuschauern Zeit zu geben, von der Geschichte emotional berührt zu sein. Das ist es, was diesen Film ausmacht und wovon ich mich in Zukunft gerne inspirieren lassen würde.
- Ein Wort zu 99 und der mehrsprachigen Umsetzung Ihres Films?
Ich bin sehr glücklich darüber, dass «Djao» auf 99 media in mehreren Sprachen veröffentlicht wird. Auch freue ich mich darüber, Mamadous Geschichte neben den Geschichten anderer Menschen – ob mit oder ohne Migrationshintergrund – zu sehen, aus der Sicht verschiedener Regisseure und Regisseurinnen erzählt.
Es ist wirklich toll zu sehen, wie kurze Dokumentarfilme einen Platz im Internet finden. Das Format kreiert Möglichkeiten, die man mit längeren Dokumentarfilmen nicht hat, beispielsweise kompaktere Themenbereiche, offenere Risikobereitschaft…
Bravo für Ihre gelungene Arbeit!