Im Herzen Belgrads scheint Adem, der einzige Bewohner von Ada Međica, einer kleinen Insel im Fluss Sava, in einer mit Rosen bewachsenen Wildnis verloren zu sein, weit weg vom Trubel der serbischen Hauptstadt und ihren 1,2 Millionen Seelen.

Adem trauert noch immer um seine Tochter Ivana.

Kann die Zeit reinigen, wie der Fluss Sava?

Regie: Ivana Todorović
Kameraführung: Maša Drndić
Bearbeitung: Marija Kovačina
Ton: Radiša Cvetković, Ivan Antić
Farbkorrektur: Milica Drakulić
Musik: „Oj Moravo“, Pera Joe
Danksagungen: Adem, Srdan Keča, Ružica Todorović, Vera Gojković, Iva Radivojević, Marela Kovačina, Milina Trišić, Tika Taka Vege, Dragan Von Petrović
Übersetzung, Untertitelung: Jeannette Amos, ZHAW Zürich

Interview

Ivana Todorović | 99.media
Photo: Emma Bilyk

Ivana Todorović Regisseurin

„Kurzfilme zu machen, das ist für mich eine besondere Herausforderung. Wie macht man innerhalb weniger als 20 Minuten einen starken, emotionalen Film?“
  • Würden Sie sich kurz vorstellen?


Ich komme aus Belgrad, Jugoslawien, heute Serbien. Ich mache kurze, sozial engagierte Filme. Ich liebe Filme, interessiere mich für Menschen und möchte Wege finden, den Dialog in der Gesellschaft zu fördern.

Ich habe angefangen, in meiner Wohngegend in Belgrad Filme zu drehen, und seither habe ich das Gefühl, dass ich Filme über meine Nachbarn mache. Das gleiche Gefühl hatte ich, als ich zwei Jahre in New York City lebte und dort einen Film drehte.

Kurzfilme sind für mich eine besondere Herausforderung: Wie macht man innerhalb weniger als 20 Minuten einen starken, emotionalen Film? Ich habe bisher 8 Kurzfilme gedreht und bereite zwei neue vor. Kurzfilme begeistern mich immer noch! Mein letzter Film war mein erster Kurzspielfilm und es hat mir Spass gemacht, auch im Spielfilmbereich zu arbeiten.

Adem's Island | 99.media
  • Wie kam es zu diesem Projekt? Wie haben Sie Adem kennengelernt? 


Ich habe Adem vor zehn Jahren auf der Insel Ada Međica kennengelernt. Diese Insel liegt in meiner Nachbarschaft und ich verbringe sehr gerne Zeit dort. Wirklich lernte ich ihn erst kennen, als ich ihn auf der Insel traf und beschloss, ihn in einem Dokumentarfilm für den Sommerworkshop des Ateliers Varan Belgrad (Teil der Jean Rouch Dokumentarschule in Paris) zu porträtieren.


Wir übten, eine Geschichte in einem kurzen Dokumentarfilmformat zu erzählen, und ich schilderte die Geschichte von Adems Leben als Muslim aus Bosnien auf der Insel. Ich war mit dem Ergebnis nicht sehr zufrieden und habe den Film nie veröffentlicht. In den folgenden Jahren besuchte ich Adem auf der Insel und freundete mich auch mit seiner Tochter Ivana an.


Ich wusste, dass sie Probleme mit Depressionen hatte. Ein paar Monate nach Ivanas Selbstmord verstarb mein Vater an Hirnkrebs. In mir war so viel Traurigkeit. Eines Tages fuhr ich auf die Insel, um Adem zu besuchen. Ich sprach mit ihm über Trauer und den Umgang mit ihr im Alltag. In der Art und Weise, wie er darüber sprach, während wir in seinem Haus auf der Insel sassen, wurde mir klar, dass dies eine Geschichte ist, die ich erzählen muss. Wie ein Vater mit der Trauer im Alltag umgeht. Das war auch mein Gefühl, die Trauer um meine Freundin und um meinen Vater, und so war der Dreh dieses Films für uns beide eine ergreifende Erfahrung.

  • Was können Sie uns über Adem erzählen? 


Adem ist in Banja Luka, Bosnien, geboren und aufgewachsen. Nach der Heirat und zog mit seiner Frau nach Belgrad. Da er in Banja Luka, in der Nähe des Flusses Drina lebte, fühlte sich sofort wohl auf der Insel Ada Međica im Fluss Sava.

Als der Krieg in Bosnien begann, zog ein Grossteil von Adems Familie nach Schweden. Er und seine Tochter Ivana waren durch den Krieg am Boden zerstört und es war schwierig für sie als Muslime in Belgrad. Adem nahm auf der Insel befreundete Flüchtlinge aus Bosnien auf. Er hatte zudem viele gute Freunde in Belgrad, Serben, die ihm ebenfalls halfen, und deshalb wohnte er weiterhin in Belgrad.

Er ist die einzige Person, die auf der Insel lebt, andere Leute kommen dorthin zu ihren Wochenendhäusern. Er hat auf der Insel ein Haus, einen Hof und ein Bootshaus. Zudem hat er eine kleine Taverne in seinem Haus, in der seine Freunde und gelegentliche Gäste auf der Insel zusammen kommen. Er kocht Essen für sie, sie verbringen Zeit zusammen und singen. Oft versammeln sich hier Menschen aus ganz Ex-Jugoslawien.

Er hat eine wundervolle Persönlichkeit, lächelt, macht Witze und liebt Menschen, so dass immer jemand in seinem Haus zu Gast ist! Er liebt es, Geschichten zu erzählen und ist ein leidenschaftlicher Redner. Ebenso liebt er seine Einsamkeit, wenn er Bücher lesen und Musik hören kann, besonders im Winter.

Adem's Island | 99.media
Ich wollte, dass das Publikum Raum hat, um ihre Gefühle der Traurigkeit auszuleben.
  • Am Ende des Films umarmt Adem einen Baum. Belgrad ist eine grosse Stadt, doch Adem scheint inmitten von Grün zu leben. Welchen Platz nimmt die Natur in Adems Leben ein?

 

Die Natur ist das Wichtigste in Adems Leben. Er sagte, das sei der Grund, warum er noch am Leben ist. Seine Bäume, seine Rosen, sein Fluss … Er atmet Natur. Jeden Morgen geht er mit seinem Hund spazieren und umarmt die Bäume. Er ist auf seinem Boot auf dem Fluss, er fährt mindestens zweimal am Tag, um seinen Verpflichtungen nachzukommen, einzukaufen, Freunde zu fahren…

  • Ihr Film ist ruhig und besteht aus langen, weiten Standaufnahmen. Die Geräuschkulisse spielt eine wichtige Rolle. Wir lauschen dem Wind, den Vögeln, den Grillen, dem Plätschern des Flusses, dem Knarren des Holzes im Feuer… Was war Ihre Absicht, sowohl in erzählerischer als auch in stilistischer Hinsicht?

Wir haben viel Zeit dafür aufgebracht, den Stil für diesen Film zu finden. Ich wusste, dass es ein langsamer Film werden würde, da Trauer ein langwieriger Prozess ist und wir uns im Alltag in Erinnerungen verlieren. Deshalb schweifen Adems Gedanken ab, im Off-Kommentar, wenn er seine Arbeit macht.


Ich wollte, dass das Publikum Raum hat, um mit seinen Gefühlen der Traurigkeit zu schweben. Trauer ist ein schwermütiges Gefühl. Dabei hat das Leben so viele wunderschöne Momente. Deshalb war die Auswahl der Filmausschnitte besonders wichtig. Wir waren auf der Suche nach Schönheit.

Es hat mich gefreut, mit Maša Drndić aus Rijeka, Kroatien, als Kamerafrau zusammenzuarbeiten. Die Erzählung des Films folgt einem Tag im Leben eines Mannes. Wir wollten eine sehr einfache Form für den Film, da wir lange, ruhige Aufnahmen geplant hatten.

Der Ton des Films war genauso wichtig wie das Bild. Das Publikum muss die Insel vollständig spüren. Ich hatte das Glück, mit Radiša Cvetković zusammenzuarbeiten, der für den Ton des Films zuständig war, und mit Ivan Antić, der die Nachbearbeitung des Tons übernahm.

Adem's Island | 99.media
  • Adem scheint sehr allein und isoliert zu sein. Dann sehen wir ihn plötzlich von Freunden umgeben, die Musik spielen, trinken… Diese musikalische Klammer ist wunderschön, emotional und steht im Kontrast zu der Stille, in der Adem zu leben scheint. Können Sie uns mehr über diese besondere Szene erzählen?

     

Trauer ist ein Gefühl, das wir in unserem Alltag mit uns herumtragen, aber es gibt wunderbare Momente, die uns vom Gefühl der Trauer ablenken; wir vergessen ein wenig, wie wir uns fühlen. Im Leben von Adem machen seine Freunde sehr oft Musik für ihn. Diese Momente finden in der Nacht statt… Adem geniesst den Moment; danach ist er wieder allein mit seinen Gedanken und Gefühlen… Wie wir alle schlussendlich.

Um diese Szene zu drehen, mussten wir eine gute Beleuchtung vorbereiten, also haben wir mit Adem vereinbart, dass seine Freunde für ihn Musik machen. Sie spielten die ganze Nacht für ihn und wir hatten stundenlanges Filmmaterial. Wir haben die emotionalsten Momente ausgewählt.

Diese Szene ist ein Höhepunkt des Films, deshalb war es sehr wichtig, dass sie möglichst authentisch aussieht.

  • Woran arbeiten Sie gerade?


Wir sind dabei, einen kurzen Dokumentarfilm über den Lebensabend von Pferden fertigzustellen. Er spielt im einzigen Pferdeasyl auf dem Balkan. Ausserdem schneiden wir einen kurzen essayistischen Dokumentarfilm über die Zerbrechlichkeit des weiblichen Körpers in einer Frauenklinik. Darüber hinaus schreibe ich eine Geschichte für einen kurzen Spielfilm.

  • Ein Wort zu 99 und der mehrsprachigen Untertitelung Ihres Films?

Ich fühle mich geehrt, und mein Team auch. Der Film kann nun von einem neuen Publikum in der eigenen Muttersprache gesehen werden! Ich hoffe, dass sie den Film geniessen werden. Ich danke den Verantwortlichen für diese Gelegenheit.

Und wenn jemand von den Leuten, die den Film sehen, jemals nach Belgrad kommt, sollte er Ada Međica und Adem besuchen. Er ist ein grossartiger Gastgeber!

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