Wenn er sein Kostüm trägt (Perücke in der Form eines Atompilzes, fliederfarbenes Make-up, Paillettenkleid), erkennt man Matthew nicht wieder. Die Figur hat er erfunden, um die in Nordirland noch immer fest vorherrschende Stigmatisierung von HIV zu bekämpfen. Sein Alter Ego lässt ihn überleben. Voilà: Cherrie Ontop!
Im zehnminütigen Film „Meine Verwandlung in Cherrie“ erzählt Matthew, wie er sich mit HIV infizierte und in einen tiefen Zustand der Verzweiflung verfiel und wie er es schaffte, trotz Verurteilung und Verabscheuung seitens seiner Mitmenschen dem Abgrund wieder emporzusteigen.
Matthew ist ein schimmernder Star in der Belfaster Drag-Szene und seine liebevollen Eltern besuchen jeden Sonntag seine Show, gleich nach der Kirche.
Regie: Nicky Larkin
Kameraführung: Jenny Atcheson, Gerard Donnelly
Bearbeitung: Jules Lyndon
Ton: Graeme Denny, Terry Grew
Produzenten: Federica Cianetti, Patricia Moore
Musik: Tony Fitz
Übersetzung: Zora Schneider (Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften)
Vielen Dank: Digital Arts Studios Belfast, Northern Ireland Screen
Interview
Nicky Larkin
Regisseur
„Ich wollte
den ganzen Transformationsprozess so filmen,
dass Matt/Cherrie die Zuschauer direkt ansieht,
als schaue er/sie in den Spiegel.“
- Können Sie uns ein wenig über sich erzählen?
Ich bin Drehbuchautor und Regisseur und stamme aus Birr, Republik Irland. Während der letzten sieben Jahren habe ich aber in Belfast, Nordirland, gelebt und gearbeitet. In meine berufliche Laufbahn startete ich als bildender Künstler. Ich studierte Fine Art in Galway und am Chelsea College of Art in London, im Laufe der Jahre wandte ich mich jedoch immer mehr dem Filmemachen zu.
- Wieso wollten Sie Matthews Geschichte erzählen?
Ich wollte einen Film über HIV drehen, weil sich die Situation dank der gewaltigen Fortschritte in der Medizin hinsichtlich der Behandlung so extrem verändert hat, sodass man heute ein erfülltes und gesundes Leben führen kann. HIV ist nicht mehr diese grosse, angsteinflössende Krankheit, die sie einst war. Heutzutage kann die Krankheit sehr gut unter Kontrolle gehalten werden. Und doch ist die öffentliche Wahrnehmung immer noch fest in der Vergangenheit verhaftet, vor allem in diesem Teil der Welt. Somit ist HIV stets noch mit einem riesigen Stigma verbunden. Wenn die Menschen an HIV denken, haben sie immer noch diese düsteren Vorstellungen aus den 80er-Jahren im Kopf, davon, was das damals zu bedeuten hatte. Die Realität sieht heute allerdings ganz anders aus. Deshalb wollte ich diese Geschichte erzählen.
Matt ist die einzige HIV-positive Person in Nordirland, die öffentlich dazu steht, was unglaublich mutig ist. Ausserdem ist er ein wahrer Performer. Ich wusste, dass er sich in einem Film ausgezeichnet machen würde. Seine Geschichte ist umso interessanter, weil er aus einem religiösen Umfeld stammt. Wie er uns im Film mitteilt, wurde er vom Amtsträger dazu aufgefordert, im hinteren Teil der Kirche zu sitzen und er wuchs mit allerlei schrecklichen Vorurteilen auf. Glücklicherweise sind seine Eltern, Kathy und Terry, beide grossartige Menschen und unglaublich unterstützend. Sie haben ihn auf jedem Schritt dieser Reise begleitet.
- Während Matthew die Zuschauer direkt ansieht, verwandelt er sich im Verlauf des Films in Cherrie. Sie wollten in extremer Nahaufnahme filmen, um uns das Gefühl zu geben, nicht entkommen zu können. Was war Ihre Absicht dahinter?
Ich wollte den ganzen Transformationsprozess so filmen, dass Matt (bzw. Cherrie) die Zuschauer direkt ansieht, als schaue er in den Spiegel. Jenny Atcheson, unsere brillante Bildregisseurin, benutzte ein EyeDirect-Kamerasystem. So schaute Matt direkt in die Kameralinse, für ihn funktionierte die Kamera aber als Spiegel und er konnte sein Make-up auftragen. Er beginnt den Film als Matt und beendet ihn als Cherrie, während er uns die ganze Zeit direkt anschaut.
Ich wollte dann in extremer Nahaufnahme drehen, wenn Cherrie den Zuschauern diese grausamen Beleidigungen an den Kopf wirft. All diese Beschimpfungen hat Matt tatsächlich selbst erlebt. Es war bösartiges Internet-Trolling. Matt schickte mir davon Bildschirmfotos und ich wandelte sie in ein Skript um, welches Cherrie vor der Kamera umsetzen konnte.
Ich glaube, es ist sehr einfach, im Schutz des Smartphones üble Beschimpfungen zu verschicken – versteckt hinter der Tastatur. Aber wenn dir jemand dieselben Worte direkt ins Gesicht sagt, sind sie sehr mächtig und verstörend. Die Leute sollten meiner Meinung nach realisieren, dass es keinen Unterschied gibt. Diese Worte haben den gleichen verheerenden Effekt auf jemanden und nur weil es online passiert, fällt es nicht einfacher, damit umzugehen. Die Menschen müssen sich der Macht ihrer Worte bewusst sein, auch wenn sie sie nur auf einem Smartphone tippen.
Bezüglich des Interviews mit seinen Eltern hatte ich mir vorgestellt (und es so geplant), Matts Mutter Kathy zu interviewen. Aber sie war an jenem Tag nicht verfügbar, an dem wir diesen Teil drehten. Also haben wir stattdessen Matts Vater Terry befragt, der noch nie zuvor über Matts Diagnose gesprochen hatte… Und wie Sie im Film sehen können, hat er Matt total die Show gestohlen, er war grossartig! Im folgenden Jahr, als wir unseren BBC-Dokumentarfilm über Matts Geschichte drehten, entwickelte sich zwischen Matts Eltern dieser witzige Wetteifer, wer sich hinter der Kamera am besten darstellen würde.
“Ich empfinde ihm gegenüber
nichts als Bewunderung.
Er hätte seine Geschichte mit der Welt
nicht teilen müssen,
er hätte sie für sich behalten können.”
- Ihr Film hatte auf Festivals auf der ganzen Welt Erfolg. Er handelt von einer ortsbezogenen Situation und vermittelt dennoch eine universale Botschaft.
Der Film wurde in weit verstreuten Orten gezeigt, wie z.B. Korea und Brasilien. Es ist toll, dass Menschen überall Matts Geschichte miterleben konnten. Ich denke, dass es zwar eine lokale Geschichte ist, sie aber ein Thema anspricht, das den Leuten überall in der Welt vertraut ist. Matt ist zudem so ein herzlicher und sympathischer Typ, dass es leichtfällt, sich mit ihm zu identifizieren. Sein Charisma erreicht die Zuschauer durch den Bildschirm hindurch.
Ich war total erfreut, dass der Film so gut aufgenommen und in so vielen Ländern und an so vielen Festivals gesehen wurde. Wir durften auch ein paar Festivals besuchen. Das Highlight war, als Cherrie und ich in Dinard über den roten Teppich stolzierten.
- Am 13. Januar 2020 wurde in Nordirland die gleichgeschlechtliche Ehe endlich legalisiert. Wenden sich die Dinge langsam tatsächlich zum Besseren?
In Nordirland gibt es eine politische Partei, die DUP, eine konservative und christliche Partei, die für einen Haufen homophober Hassreden verantwortlich ist. Leider ist sie hier oben Teil der Regierung und hat sehr viel Macht und Einfluss. Ironischerweise ist sie eine unionistische Partei, sie wollen also, dass Nordirland Teil des Vereinigten Königreichs bleibt. Aber wenn es um die Gleichstellung bei der Eheschliessung und um Abtreibung geht, wollen sie nicht dieselben Gesetze wie der Rest des Vereinigten Königreichs. Sie sind der politische Flügel aus dem 16. Jahrhundert!
Kunst ist allerdings ein mächtiges Instrument des Protests. Die Theatergruppe The Belfast Ensemble, zu deren Stammbesetzung auch Matt gehört, führte letztes Jahr unter der Führung des enigmatischen Conor Mitchell eine Oper mit dem Titel „Abomination“ („Abscheulichkeit“) auf. Alle homophoben Aussagen der DUP wurden in Musik umgesetzt – wortwörtlich. Sie kreierten also diese Kombination aus wunderschöner Musik und hasserfüllten Liedtexten, was die Macht der Sprache zum Vorschein bringt, wenn sie von Politikern unverantwortlich verwendet wird.
Ich habe einen Dokumentarfilm über die Entwicklung der Oper gedreht, von den ersten Tagen der Theaterproben in einer Kirche in Belfast bis hin zu den ausverkauften Vorstellungen im Lyric Theatre. The Guardian gab der Show fünf Sterne und The Observer setzte sie auf die Liste der „Top 10 der Klassischen Musikaufführungen 2019“ (Top 10 Classical Music Performances of 2019).
Das aus Sicht eines Filmemachers Beste, das während der Filmarbeiten ganz zufällig geschah: Das Gesetz zur Gleichstellung der Ehe trat inmitten der Opernproben in Kraft. Es gab grossen Protest und Jubel vor dem Stormont Castle, dem Regierungssitz. Der Film dokumentiert also nicht nur die Entstehung der Oper, sondern auch den historischen Wendepunkt für Nordirland. Nachdem das Gesetz verabschiedet wurde und die Show bereit war zur Aufführung, kam ein richtiges Gefühl der Freude und Hoffnung auf. Die Dinge begannen sich in Nordirland zum Besseren zu wenden.
- Wie geht es Matthew heute?
Es ist eine schwierige Zeit für Cherrie Ontop, da all ihre Kabarettshows aufgrund der COVID-Einschränkungen abgesagt wurden. Matt ist ein fantastischer Sänger und Künstler, sowohl als er selbst als auch als Cherrie Ontop. Er hat eine wöchentliche Auftrittsmöglichkeit in einem Kabarettclub in Belfast, doch leider sieht es so aus, als wird es eine Weile keine Live-Auftritte geben können. Er ist aber anderweitig mit dem Belfast Ensemble beschäftigt. Wir haben während dem Lockdown ein paar Shows gefilmt, die dann live gestreamt wurden.
Abgesehen von diesem COVID-Fiasko geht es ihm sehr gut. Für viele Menschen in Nordirland ist er ein echtes Vorbild. Letztes Jahr haben wir für BBC einen kurzen Dokumentarfilm mit dem Namen „Cherrie, Me & HIV“ gedreht. Seine Geschichte ist momentan sehr präsent, mehr als je zuvor.
Ich empfinde ihm gegenüber nichts als Bewunderung. Er hätte seine Geschichte mit der Welt nicht teilen müssen, er hätte sie für sich behalten können. Und dennoch hat er es getan, um anderen zu helfen, um allen leidenden Menschen ein Licht im Dunkeln zu sein und das hat ihn einiges gekostet. Da draussen gibt es einige sehr üble Menschen und leider haben sie alle ein Smartphone.
- Woran arbeiten Sie gerade?
Soeben haben wir die Kurzfilm-Komödie „Gone Viral“ („Viral gegangen“) fertiggestellt. Ich war Drehbuchautor und Regisseur, Raymond Lau von Green Dragon Media unser Produzent und finanzielle Unterstützung erhielten wir von Northern Ireland Screen. Die Komödie handelt von einem Mann mittleren Alters, der während der COVID-Pandemie mit seiner Frau in Nordirland zuhause im Lockdown sitzt und unbedingt auf den Sozialen Medien viral gehen möchte. Ich habe den Kurzfilm während des ersten Lockdowns geschrieben, zur Osterzeit. Wir hatten Glück, dass wir ihn während eines der kurzen Zeitfenster zwischen den vielen Lockdowns drehen konnten. Nun arbeiten wir daran, ihn als Serie umzusetzen.
Ich habe auch ein paar neue Dokumentarprojekte am Start. Ich hoffe deshalb, dass wir so bald wie möglich zur Normalität zurückkehren und wieder Filme machen können!
- Noch ein Wort zu 99 und zur mehrsprachigen Untertitelung Ihres Films?
Es ist wirklich eine tolle Möglichkeit, „Cherrie“ wieder neues Leben einzuhauchen. Unsere Festivaltour beschränkte sich mehrheitlich auf englischsprachige Gebiete. 99 gibt uns die fantastische Gelegenheit, Matts Botschaft den Menschen mitzuteilen, die sie andernfalls nicht mitbekommen hätten.
Vielleicht wird sich jemand den Film ansehen, der Matts Geschichte unbedingt zu hören braucht und so Hoffnung und etwas Licht erfahren. Für einen Filmemacher ist es auch immer schön, mit der eigenen Arbeit ein so grosses Publikum wie möglich zu erreichen. Ich bin daher extrem begeistert, dass der Film in sieben Sprachen übersetzt wird!