Als Mr. Bharde ein neugeborenes Küken in die kleine Wohnung in Mumbai brachte, gewann es schnell die Herzen der Familie. Doch das Küken wurde bald zum Hahn und begann die ganze Familie zu terrorisieren.

Wie sieht wohl das Schicksal dieses frechen Hausgenossen aus?

Der indische Filmemacher Rishi Chandna hat sich für seinen ersten Kurzdokumentarfilm den Titel Tungrus ausgesucht und damit für viel Unterhatlung gesorgt. Das Lachen flog von einem Festival zum nächsten – jetzt kommt es auch zu Ihnen!

Regie: Rishi Chandna
Kameraführung: Deepak Nambiar
Ton: Vinit D’Souza
Bearbeitung: Neha Mehra, Niranjan Rasne
Übersetzung, Untertitelung: Jodie Clifford, Jeannette Amos, Gabriele Gelormino (Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften)

Interview

Rishi Chandna | 99.media

Rishi Chandna Regisseur

„Damals lebte ich in einer winzig kleinen Einzimmerwohnung in Bombay mit einer Katze und ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn ich zudem einen Hahn hätte!
  • Erzählen Sie etwas über sich, Rishi.


Ich bin in Kalkutta geboren und aufgewachsen und lebe jetzt in Goa.

Ich bin ein autodidaktischer Filmemacher. Was ich auch studiert habe, war langweilig! Wirtschaft, Buchhaltung, Marketing… Das hat mich nicht auf das Umfeld vorbereitet, in dem ich jetzt arbeite, aber ich muss zugeben, dass ich das jahrelang studiert habe!

Glücklicherweise gab es an einigen Universitäten, an denen ich studierte, Nebenfächer in den Bereichen Kultur und Kommunikation, Filmstudien, Semiotik, und das begann mich tatsächlich zu interessieren. Damals hatte ein Freund von mir eine Festplatte mit 500 Filmen auf dem Campus herumliegen. Heutzutage kann man natürlich alles streamen, alles herunterladen, aber damals war das noch anders. Ich fing an, all diese Filme zu schauen und öffnete mich anderen Kunstformen wie der Musik und der Poesie.

Nach zwei Jahren kündigte ich meinen Job und hatte keine Ahnung, wie man Filmemacher wird. In Indien wird man erst Regieassistent, dann dritter AD (Assistant Director), dann zweiter AD und dann erst Regisseur. Aber AD ist nicht wirklich eine kreative Position, es ist ein Produktionsjob, also war ich nicht scharf darauf.

Dann hatte ich begonnen, „Hochzeitsdokumentationen” für Freunde zu drehen. Nicht wie die traditionellen Hochzeitsvideos, in welchen man Interviews, Zeitlupenaufnahmen und all diesen Schwachsinn sieht! Es waren Freunde, also hatte ich Zugang zu der Szene. Das war mehr wie cinéma vérité. Man sieht, wie sich die Braut betrinkt und übergibt, wie die Leute sich zum Narren machen…


Nach diesen Hochzeitsfilmen begann ich, in Bombay Werbefilme aufzunehmen. Das Leben in Bombay ist wie eine Filmschule. Einer meiner ersten Jobs als Filmemacher war es also, Videos hinter den Kulissen grosser Bollywood-Filme zu drehen. Ich habe Geld gespart, bis ich das Thema für Tungrus gefunden hatte, und in dem Moment, als mir das Thema einfiel, musste ich den Film einfach realisieren.

Tungrus | 99.media
  • Sprechen wir darüber. Wie kam es zu dieser Idee?


2017 kam meine Frau nach der Arbeit nach Hause. Ich fragte sie nach ihrem Tag und sie sagte, dass ein Freund von ihr, Sameer, ihr erzählt hatte, dass er zu Hause viele Streitereien mit seinem Vater hatte und dass sie nicht miteinander reden würden. Ich fragte: „Warum?”. Und sie sagte: „Weil sie seit sechs Monaten einen Hahn zu Hause haben und er sie in den Wahnsinn treibt. Sein Vater möchte ihn töten und essen. Aber Sameer sagt nein, denn wir kennen diesen Hahn!”

Sie erzählte das ganz nebenbei, als wäre es ein ganz normales Gespräch! Ich war sofort sehr neugierig. Ich hatte noch nie zuvor so etwas gehört. Bombay ist eine chaotische, sehr dicht besiedelte Stadt, mit 22 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern, in der es keine Privatsphäre gibt. In einem Zimmer können 8 oder 10 Personen aus einer Familie leben. Damals lebte ich in einer wirklich kleinen Einzimmerwohnung in Bombay mit einer Katze, und ich stellte mir sofort vor, wie es wohl wäre, wenn ich zudem einen Hahn hätte!

Ich fragte mich: „Was ist das für eine Familie? Was werden sie entscheiden? Soll der Hahn leben oder sterben?”. Sie hatten einen grossen Streit, eine grosse Herausforderung, die gemeistert werden musste. Also habe ich mich über meine Frau an die Familie gewandt, ihr erklärt, warum ich einen Film drehen wollte, und sie waren einverstanden!

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  • Wie verliefen die Dreharbeiten in der Wohnung?


Die Familie erzählte mir, dass sie ihre Wohnung verlassen wollte, um in eine neue zu ziehen. Sie würden einen Monat später umziehen, also sagten sie, ich könne drehen, was ich wolle, bevor sie weg wären. Und bevor sie wegzogen, mussten sie entscheiden, was sie mit dem Hahn machen wollten… Ich hatte also einen Monat, das war mein Zeitfenster für die Aufnahmen.

Ich habe die Familie ein paar Mal ohne Kamera besucht, nur um zu beobachten. Um zu sehen, wie sich der Hahn verhielt, wie sie sich verhielten, wie ihr Tagesablauf aussah. Dann baute ich ein wenig Vertrauen auf und wir begannen, 8 Tage lang mit einem sehr kleinen Team zu filmen – mit „kleinem Team” meine ich mich, einen Kameramann mit einer alten Canon-Kamera, die ich mir ausgeliehen hatte, keine Scheinwerfer, sowie einen Tontechniker. Es war sowieso ein kleines Haus! Man kann nicht mit einem Heer von Technikern, wie eine Filmcrew, mit Ausrüstung und allem, in ein fremdes Haus eindringen. Zudem hatten wir kein Geld dafür! Auch filmten wir mit Tieren, und die sind sehr empfindlich. Ich machte mir Sorgen, dass die beiden Katzen und der Hahn wegen uns ‚Aussenstehenden‘ nicht mehr das tun würden, was sie normalerweise tun. Der Grundsatz bestand darin, es im kleinen Rahmen zu halten, ruhig zu sein, langsam zu arbeiten, leise zu arbeiten, innerhalb der räumlichen Möglichkeiten.

Ich wollte keine Stellung beziehen, sondern nur einen stillen Betrachter darstellen. Die Leute sehen sich den Film an und entscheiden selbst, was sie fühlen. Ich wollte die Leute nicht mit Emotionen füttern und ihnen sagen, wann es traurig oder wann es lustig sein soll. Das sollen sie selbst herausfinden.

Aus diesem Grund steht die Kamera auch immer auf dem Stativ. Es wäre so einfach gewesen, die Kamera in der Hand zu halten und dem Hahn zu folgen. Aber ich glaube, es war eine grössere Herausforderung, einfach still und leise zu sein und ein bisschen ironisch zu sein.

„Bombay ist überfüllt, es ist wirklich überfüllt. Die Menschen leben so dicht gedrängt, dass es zu Chaos und aussergewöhnlichen Situationen kommt.
  • Wann haben Sie erkannt, dass dieser Film humorvolles Potential aufweist?


In dem Moment, als ich von der Familie mit dem Hahn hörte, hatte ich das Gefühl, dass es etwas sehr Absurdes an sich hatte. Es gibt viele verschiedene Arten von Humor, und ich war schon immer von schwarzem, dunklem, trockenem Humor angetan, weil diese Art unterschwelliger ist, mehr unter den Schichten der oberflächlichen Geschichte liegt.

Ich wusste von Anfang an, dass da etwas war, das mehr als Slapstick war. Das hat mir dabei geholfen, zu erkennen, wie ich drehen und schneiden muss, wie ich diese Stimmung einfangen kann.

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  • Was sagt Ihr Film über Indien aus?


Dies ist ein sehr, sehr Bombay-typischer Film. Es ist überfüllt, es ist rappelvoll. Es herrscht eine solche Dichte an Menschen, dass es zu Chaos und aussergewöhnlichen Situationen kommt. Es gibt eine Art Überschneidung zwischen Verrücktheit und dem Alltag. Ein Grossteil Indiens existiert in dieser Schnittmenge.

Als Aussenstehende:r finden Sie vielleicht, dass das Land etwas exzentrisch, etwas eigenwillig oder skurril ist. Aber Indien hat fast 2 Milliarden Einwohnerinnen und Einwohner und ist nicht nur ein einziger Staat. Von Staat zu Staat ändert sich die Sprache, das Essen, die Kultur. Aber was konstant bleibt, ist dieses Chaos, das zu sehr absurden Situationen wie derjenigen in Tungrus führt.

  • Verbirgt sich eine politische Botschaft hinter dieser absurden Situation? 


Nach den Dreharbeiten wurde mir klar, dass der Hahn politisches Sinnbild für den „Aussenseiter” in einem Umfeld ist.

Dieser Film sagt viel darüber aus, was gerade in Indien passiert, denn wir sind in den letzten 10 Jahren in eine extreme politische Lage geraten. Indien hat es mit einer neuen Form von religiösem Nationalismus zu tun, in dem bestimmte Gruppen nicht willkommen sind und als „Aussenseiter” betrachtet werden, auch wenn das in unserer Vergangenheit nie der Fall war. Wir sind immer ein sehr weltliches und offenes Land gewesen.

Damals, 2017, als ich den Film drehte, gab es in vielen Bundesstaaten Indiens ein Verbot, Rindfleisch zu verkaufen und zu essen. In diesem Film geht es also um die kulturelle Beziehung zum Essen, und in Indien wird diese eingeschränkt. Daher denke ich, dass diese politische Botschaft bereits unterbewusst präsent war, als ich mich von der Geschichte angezogen fühlte.

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  • Was ist Ihrer Meinung nach die Besonderheit an kurzen Dokumentarfilmen?


Ein Kurzdokumentarfilm ist definitiv eine Kunstform, ein Medium, das einem abendfüllenden Spielfilm, einem Kurzspielfilm oder einem langen Dokumentarfilm in nichts nachsteht. Er ist Kino pur!

Auf Festivals habe ich Filmschaffende aus der ganzen Welt getroffen und sie gefragt: „Ist das Ihr erster oder zweiter Dokumentarfilm?“, und sie erwiderten: „Oh nein, ich habe bisher 8 Kurzdokumentarfilme gemacht!“ In Indien würden Filmmachende, die so etwas machen, nicht ernst genommen werden. Sie wären sowieso bankrott, weil wir kein Ökosystem für Kurzfilme haben, schon gar nicht für Kurzdokumentarfilme.

Stellen Sie sich ein Land wie Indien vor, in dem jedes Jahr so viele Filme gedreht werden, wir haben eine enorm grosse Filmindustrie. Aber es gibt nicht genug Anerkennung und Unterstützung für diese Form des künstlerischen Ausdrucks.

Doch um einen Spielfilm zu produzieren, braucht man eine Menge Geld. Man muss Schauspieler verpflichten, man braucht eine Crew, Ausrüstung, Kostüme, Licht, Make-up… Aber für einen kurzen Dokumentarfilm, wenn man genug Geld hat, um ihn selbst zu finanzieren, hat man völlige Freiheit. Die Art von Freiheit, die ich mit Tungrus erlebt habe. Das ist nicht vergleichbar.

Ich möchte einen langen Film machen, egal ob Spiel- oder Dokumentarfilm, aber ich weiss jetzt schon, dass ich als Künstler nicht die gleiche kreative Freiheit haben werde. Ich würde also sagen: „Es lebe der kurze Dokumentarfilm!“. Kompliment an 99, das Filmemachern hilft, ein breiteres Publikum zu erreichen.

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